Nimm die Brille ab!

Ein Bergbauernhof in den Alpen. Der Tourist nimmt ihn als einen Ort des selbstbestimmten, stressarmen und gesunden Lebens wahr und sieht sich selbst als Opfer einer entfremdeten, immer hektischeren Arbeitswelt. Der Bauer denkt an Plackerei, Rückenschmerzen, Geldsorgen und schlechte ärztliche Versorgung, und sieht sich als Opfer einer verfehlten Landwirtschaftspolitik. Jeder schaut halt durch seine Brille.

Jeder durch seine Brille

‘Wie schön’, sagt der Touri…

„Wie schön Sie es doch hier haben“, sagt der Tourist, atmet demonstrativ dreimal durch und macht auch gleich ein paar Asanas vor dem herrlichen Panorama. Der Bauer, der von der Schönheit nichts zu spüren scheint, verdreht die Augen, murmelt im Weggehen was von ‘Deppen’ und ‘Spinnern’, schimpft auf die ‘Preußen’ in Berlin und wirft mit großem Getöse die rostige Güllepumpe an.

Jeder durch seine Brille

‘Plackerei, Rückenschmerzen’ – der Bauer wäre lieber im Tal

Beide, der Tourist und der Bauer, sehen die Welt durch ihre eigene Brille und zusätzlich sind beide Opfer der gleichen, der ganz großen Illusion. Sie haben das Gefühl, unabhängig existierende Einheiten im Weltgeschehen zu sein und sind doch nur Knotenpunkte in einem endlosen Netz gegenseitiger Abhängigkeiten. Alle Einflüsse, die sie zu dem gemacht haben, was sie sind – der Geburtsort, der ererbte Bauernhof bzw. die Berufswahl in der Großstadt, die ererbte Veranlagung, das Elternhaus, die Schulbildung, etc – bilden dieses Netz, und dies gilt es, zu beschreiben, wenn wir unsere Protagonisten charakterisieren.

Die Qualität Deiner Texte hängt also von der Qualität Deiner Wahrnehmung ab. Dies gilt sowohl für das innere als auch für das äußere Geschehen. Beides erfahren wir nicht direkt, sondern nur den kleinen Teil, den unser Geist nach einem unbewussten Bearbeitungsprozess ins Bewusstsein kommen lässt.

Wir sind auf der Welt, um die Brille abzunehmen.

Vergleichen wir dies mit einem Kinobesuch:

Jeder durch seine Brille. Das Leben ist Kopfkino

Kopf – Kino

Wir sehen das, was auf die Leinwand projiziert wird und hören den Ton aus den Lautsprechern. Der Regisseur des Films und der Cutter bleiben verborgen. Wir sind auf der Welt, um ihnen auf die Schliche kommen, die Brille abzunehmen und die Welt zu sehen, wie sie ist. [Vipassanah] Der Weg dorthin: Achtsamkeit, das Ergebnis: Freiheit.


Herzlichst, D.H. Ludwig, der Sinnfinder von Schreibrausch.

Ich schreibe für Sinnsucher, Schriftsteller, Blogger und Texter, gebe Kurse in Kreativem Schreiben und Webpublishing. Die Themen reichen von der Charakterisierung über Dialoge, Plotten und Überarbeiten bis zu Hilfestellung bei Veröffentlichung, Web-Publishing und SEO. Weiter beschäftigt mich, was das Schreiben mit uns macht, wie es zur Entwicklung beiträgt, wie es unser Leben mit Sinn erfüllen kann. Humor kommt dabei nicht zu kurz. Über Deine Fragen, Nachrichten und Kommentare freue ich mich.

Mein Buch ‘Mehr als Twittern’ erscheint bald.

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16 Kommentare zu „Nimm die Brille ab!

  1. Da hast du ein gutes Beispiel gewählt. Gerade im Urlaub finden viele Leute solche Zustände romantisch, die sie selber im Alltag unerträglich fänden. Das geht manchmal so weit, dass extra für die Touristen Dörfer gebaut werden, in denen dann Einheimische ganz “authentisch” so leben, wie vor 100 Jahren. Solche Parallelwelten zu erkennen und die verschiedenen Sichtweisen und Konflikte zu beschreiben kann spannend sein.

    1. Danke, das ist immer wieder interessant, was Menschen so denken, wenn sie meine Artikel lesen. Parallelwelten, ja Vielleicht leben wir in Parallelwelten, weil jeder nur das sieht, was seine persönliche Brille durchlässt.

      1. Ich sehe das als Reiseblogger jedenfalls so. Wenn ich manche Berichte über die besuchten Orte und Länder von anderen Autoren lese, denke ich manchmal, wir schreiben über verschiedene Orte…

  2. Nach meinem Auffassung, sehen wir keinen Film im Kino, sondern stehen selber mitten in der monumentalen Kulisse eines Theaterstückes. Es gibt keinen Regisseur oder Cutter, kein Drehbuch, keinen Text, an den wir uns halten müssen/können – wir verfügen nur über mehr oder weniger Improvisationstalent. Es gibt Hauptdarsteller, Nebendarsteller und Komparsen, aber wir agieren stets live!

    Da ich ich nicht an Vorsehung, an Schicksal glaube, sind die von Dir so genannten „Knotenpunkte“ die Rahmenbedingungen, die jeder Darsteller mitbekommt und die seine Grenzen definieren – Grenzen, die JEDER hat. Der Eine hat weitere, der Andere engere. Nur innerhalb dieser Grenzen liegt unsere erhoffte Freiheit für unser „Spiel“, unseren Auftritt auf der Weltbühne in Interaktion mit dem „Ensemble“ unserer Epoche. Einige Akteure haben sogar das Talent, das Bühnenbild umzugestalten, es ihrer Improvisation anzupassen. Das gelingt mal zum Guten und zum Nutzen Vieler, ein andermal gewinnt Hybris die Oberhand, was zu großen Leid führt. Empathie, Zuwendung weg von uns, hin zu Anderen, ermöglicht zuweilen einen qualitativ anspruchsvollen Akt zu spielen, in dem wir uns die Bälle geschickt zuspielen und einander einbinden. Aber jeder eitle Selbstdarsteller, jeder Geck, jeder Narzist oder Egomane etc., macht ein gutes Miteinander kaputt.

    Die Welt sehen, wie sie wirklich ist, erscheint mir eine Unmöglichkeit. Das gelänge mir tatsächlich nur als Buddhistin oder unter Einsatz etlicher illegaler Substanzen. Und will ich das überhaupt? Kann es nicht genügen, an meinem Platz, meine Rolle bestmöglich und bescheiden zu spielen und auszufüllen? Auf der Weltbühne haben wir fast acht Milliarden Mitspieler, aber kein Publikum!

    Nach ähnlichem Prinzip agieren auch meine fiktiven Protagonisten. Ich betrachte sie, wie ich mich betrachte und ihr Umfeld, wie das meine. Nur so kann ich sie authentisch agieren lassen. Ich kann sie nicht etwas fühlen lassen, was mir selbst gänzlich fremd ist oder etwas sehen lassen, das ich selbst nie sah.

    VG, Heather

    1. Danke! Grossartiger Beitrag.Besser als mein bescheidener Post. Was mich aber freut: Die Metapher vom Kino setzt offenbar viele Assoziationen frei und Deine machen besonders viel Freude. Danke, Heather! ,Dabke noch mal.

      1. Kein Grund zum Dank oder ich gebe ich ihn zurück, denn Dein guter Beitrag ist Inspiration und Denkimpuls – wohin auch immer das führen mag. (In meinem Fall gehen mit mir leider zu oft die Gäule durch und ich bräuchte auf einer Schulter einen Lektor, auf der anderen einen Korrektor.😬)

    2. Die Welt sehen wie sie ist, da hast Du Recht, das geht nicht wirklich. Aber mal über den Tellerrand der eigenen Neurosen schauen vielleicht doch. Und ja, Buddhismus ist ein Weg.

  3. Die Kunst eines Schreiberlings ist es doch, eine Geschichte so zu erzählen, dass die Leser sie in ihre eigene Sichtweise transportieren können. Ein schönes Beispiel dazu ist “die unendliche Geschichte” und ihre unterschiedlichen Versionen der Verfilmungen. Denkanstöße gebend aus dem eigenen Blickfeld betrachtend, aber so gestaltend, dass der Kern transportiert wird und die Lesenden diesen Kern dann als ihre eigene Blume erblühen sehen.

    Dein Beispiel mit dem Bergbauernhof kenne ich beispielsweise mit dem Bild des Meeres – viele verbinden damit die Karibik (ich sehe südlich vor allem Haiti, da ich dort mal ein Patenkind hatte) – aber persönlich ist für mich das Meer eher kalt, mit Eisbären am Rande und Eisschollen, die darauf herumtreiben und irgendwo im Hintergrund erleuchten die Nordlichter. Das ist mein Bild davon. Wie siehst du das Meer? 😉

    ein guter Beitrag muss nicht immer lange sein – manchmal liegt in der Kürze die wahre Würze

  4. Die Aufforderung, die Brille abzunehmen, ist nicht nur eine physische Handlung, sondern auch eine Einladung zur Selbstreflexion. 🙂
    Liebe Grüße,
    Carolin

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