Für meinen Freund Jo – ich nenne ihn den Calamity-Joe, ist ’sei du selbst‘ zum Lebensmotto geworden. Und zwar, seit er das im Jahr des Herren 1975 in Hermann Hesses Aphorismensammlung ‚Lektüre für Minuten‘ gelesen hat.
Erinnert euch:
Sei du selbst, und die Welt wird reich und schön.
Solche Aphorismen bieten einfache Lösungen in einer komplexen Welt und gleichzeitig viel Widersprüchliches.
Heute versucht Joe es mit YouTube-Filmchen.

Joe beim Versuch, sein Weltbild mit YouTube -Schnipseln zu gestalten
Ergebnis:
Sein Urteilsvermögen löst sich auf, wie Würfelzucker in der Kaffeetasse.

Hermann Hesse dazu:
Je rascher sich die Menschheit vermehrt und je mehr technische Mittel sie besitzt, desto mehr wird sie verflacht und zum gleichförmigen Kollektiv werden.
Bei Joe ging der Schuss jedenfalls nach hinten los.
Hören wir doch mal, was Joe nach Jahrzehnten der ‚Selbstfindung‘ so redet:
Klar bin ich unglücklich, wie sollte es anders sein – das fängt ja schon mit dem Elternhaus an: Die rigorose Reinlichkeitserziehung – oh je. Meine Mutter? – Immer in Hektik und später dann der Druck wegen guten Noten und gutem Benehmen.
Dann diese repressive Gesellschaft, mit der sich kein vernünftiger Mensch identifizieren mag – auf die Uni wollte ich gar nicht erst. Was man da lernen kann, dient ja doch nur den Interessen der Eliten. Und je mehr Geld ich verdient hätte, desto mehr hätte ich ja an diesen Staat abführen müssen. Weil ich das gründlich durchschaue, habe ich mich nie darauf eingelassen.
Dass ich unter Depressionen, Schlaflosigkeit und Verspannungen leide, liegt ja auf der Hand.
Originaltext Joe zu seinem ‚Sei du selbst‘-Desaster
Was ist es denn, dieses ‚Selbst‘, das wir sein sollen?





– Eine Reihe von Einflüssen, die wir uns nicht ausgesucht haben
und die unsere Welt keineswegs ‚reich und schön‘ machen müssen. Es sind oft eher die Knüppel, die uns der Zufall zwischen die Beine geworfen hat.
‚Sei du selbst‘ kann damit zu einem armseligen Irrweg werden.
Was sagt Hermann Hesse denn noch?
– der Frage, ob es da einen ‚Bestimmer‘ gibt, gehe ich hier nicht nach.
Aber was ist mit ‚Weg‘, ‚Gefahren‘ und ‚Schmerzen‘, die auch zum ‚Sei du selbst‘ gehören?

Ein Prozess, in dem wir uns auf den Weg machen und unsere Komfortzone verlassen müssen?
Mir gefällt, was George Bernard Shaw dazu sagte.
Es geht im Leben nicht darum sich zu erfinden, sondern darum, sich zu erschaffen.
Die Idee, dass Identität durch Handlungen entsteht, wird von mehreren philosophischen Theorien unterstützt:
**Existenzialismus**: Philosophen wie Jean-Paul Sartre betonen, dass der Mensch durch seine Handlungen seine Essenz schafft.
**Pragmatismus**: Philosophen wie John Dewey und William James argumentieren, dass Identität durch das entsteht, was wir tun und wie wir mit unserer Umwelt interagieren.
**Aristotelische Tugendethik**: Aristoteles betonte, dass die Entwicklung von Tugenden durch wiederholte Handlungen unsere Identität prägt.
Im Gegensatz dazu steht die **Narrative Identität**: Paul Ricœur entwickelte die Theorie der narrativen Identität, die besagt, dass wir unsere Identität durch die Geschichten konstruieren, die wir über uns selbst erzählen.
In Bezug auf Joe heißt das: Die Geschichten, die er von seiner schwierigen Sozialisation erzählt, sind sein Konstrukt. Egal ob sie stimmen oder nicht: Sie verhindern, dass er die Verantwortung für sein Leben übernimmt.
Welche dieser Ansätze spricht dich am meisten an?

Herzlichst, D.H. Ludwig, der Sinnfinder von Schreibrausch.
Ich schreibe für Sinnsucher, Schriftsteller, Blogger und Texter, gebe Kurse in Kreativem Schreiben und Webpublishing. Die Themen reichen von der Charakterisierung über Dialoge, Plotten und Überarbeiten bis zu Hilfestellung bei Veröffentlichung, Web-Publishing und SEO. Weiter beschäftigt mich, was das Schreiben mit uns macht, wie es zur Entwicklung beiträgt, wie es unser Leben mit Sinn erfüllen kann. Humor kommt dabei nicht zu kurz. Über Deine Fragen, Nachrichten und Kommentare freue ich mich.
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Erfahrungen mit Liebscher und Bracht Das schreibt die Presse
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Toller Post!!!!
Danke, Nora, ich habe Deine tollen Bilder und Beiträge angesehen und abonniert. Da kommen mir meine KI- Bildchen echt arm vor.
Ganz lieben Dank. Ich mag Deine Texte, die ich bisher gelesen habe. Da ich heute freí habe, werde ich auch gerne am Nachmittag noch ein bisschen auf Deinem Blog stöbern.Hab Deinen Blog auch abonniert.🤗
…habe Dich meiner Blogroll beigefügt.
Die Analyse von Joe (ich nehme mal an, eine Kunstfigur) ist nachvollziehbar und soweit korrekt. Deshalb solche Konsequenzen zu ziehen, zu erleiden bzw. sich hängenzulassen, das entbehrt allerdigs jeglicher Zwangsläufigkeit. Ist doch gut, wenn man nicht „in die Welt paßt“, denn dann „ist man immer nahe daran, sich selbst zu finden. Wer in die Welt paßt findet sich nie – aber er wird Nationalrat.“ Auch ein Zitat von Hermann Hesse. Und was das „Konstrukt“ betrifft: Ich könnte ähnliche Geschichten erzählen. Erlebt und durchlitten, aber sehr kräftigend für meine Persönlichkeitsentwicklung. Mir hat das sehr geholfen dabei, ein zufriedener Mensch zu werden. Ganz aus mir selbst heraus und ohne jede Art von Sponsoring. Auch kenne ich einige Unzufriedene, die es in ihrer Kindheit extrem leicht gehabt haben und trotz Wohlstands und hohem Status heute depressiv sind. Merke: Die Menschen sind verschieden. PS: „Erfolg“ ist eine kurzfristige Illusion.
Danke für Deine treffenden Worte. Ich glaube Du hattest schon alles begriffen und hättest meinen Artikel gar nicht gebraucht. Und die ihn brauchen könnten, lesen sowas eher nicht. Aber vielleicht können wir ja nur erfassen, was für unsere Entwicklung gerade dran ist.
…habe Dich meiner Blogroll beigefügt.
Mit der narrativen Identität kann ich sehr viel mehr anfangen als mit den anderen Theorien, weil ich die Auseinandersetzung mit diesem Modell ergiebig finde. Dass die Identität jedes Einzelnen durch verschiedenste Narrative geprägt wird, liegt auf der Hand, und da sie förderlich oder begrenzend sein können, ist es gewinnbringend, uns diese Narrative immer wieder bewusst zu machen und zu reflektieren.
Eher problematisch finde ich vor allem die Narrative, die von außen an uns herangetragen werden, z.B. von unseren Eltern, weil wir sie in der Kindheit oft noch nicht hinterfragen können und wir sie daher für die Realität halten. Ein einfaches Beispiel: Es gibt Eltern, die nach den ersten quietschigen Flöten-Versuchen ihrer Kinder jederzeit ungefragt und im Brustton der Überzeugung verkünden, ihr Sprössling sei völlig unmusikalisch. Es überrascht nicht, dass das Kind dann schnell die Lust verliert, weiter zu üben. Viel schlimmer aber ist, dass ein Kind dazu neigt, den Eltern zu glauben, sodass es nicht unwahrscheinlich ist, dass es seine Musikalität niemals entdecken oder entwickeln wird.
Eigene Narrative entstehen oft aus dem Versuch heraus, Erlebtes in einen Kontext einzubetten, der dem Erlebten Sinn verleiht. Oft geht es auch darum, das eigene Handeln (oder Nicht-Handeln) zu rechtfertigen. Diese eigenen Narrative entstehen bewusst oder unbewusst und erfüllen eine Funktion – unabhängig davon, ob sie förderlich sind oder nicht. Und Narrative verändern sich im Laufe des Lebens, sind also nichts Statisches, sondern prozesshaft. Sie begleiten die Entwicklung und Identitätsfindung des Menschen. Ein Narrativ ist niemals „die ganze Wahrheit“, sondern eine Perspektive, eine subjektive Sichtweise. Damit erscheint mir die Theorie der narrativen Identität eine angemessene Herangehensweise an das Phänomen der ‚Identität‘, bei dem es sich ja auch nicht um eine absolute Wahrheit handelt, sondern um etwas sehr Subjektives, Prozesshaftes.
Die Narrative entsprechen meist nicht der Wirklichkeit.
Aber ein fatales Beispiel ist mir in Erinnerung: Mein früherer Freund, ich nenne ihn hier mal Werner: Seine Eltern, sagte er, hätten immer gesagt, er sei leider total unmusikalisch.
Er habe sich davon nie entmutigen lassen, und regelmäßig, mittlerweile seit mehr als 10 Jahren auf seinem Saxophon geübt. Dazu konnte ich ihm nur gratulieren: ‚Nichtförderliches Narrativ verändert und durch aktives Handeln den Kurs neu bestimmt und die Identität neu gestaltet. – Chapeau!!
Aber es kam dann doch ganz anders. Sein Plan sei nämlich, jetzt auch noch mit dem Singen anzufangen und mich hatte er zu seinem Lehrer erkoren. Das fand ich dann gut, aber nur bis zu dem Tag, als wir uns zur ersten Stunde trafen: Ich dachte erst er macht Witze mit mir, denn immer wenn ich einen Startton für eine Übung vorgab, sang er einen ganz anderen oder so haarscharf dran vorbei, dass es fast schon wieder zu bewundern war. Mir lief nach wenigen Minuten der Schweiß von der Stirn. Später erfuhr ich noch, dass Werner mit seinem Saxophon in diversen Musikgruppen einiges Unheil angerichtet hatte…
Und was heißt das für die Narrative? Ich meine, dass es eine Wirklichkeit geben kann, die sich nicht darum kümmert, was wir darüber denken .-Jedenfalls in dem Fall. Zum Glück ist es aber meistens Anders und wir können uns in den Prozess stürzen, – jeder nach seinen Möglichkeiten.
Schön wenn man dann Menschen hat, die sich ihre Geschichten erzählen um gemeinsam darüber zu lachen, zu weinen und sie am Ende hinter sich zu lassen.
Lieber Dirk,
ich möchte sorshahell zustimmen, und denke, dass du den narrativen Aspekt unserer Identität zu leichtfertig als „Geschichten“ abtust.
Die Betonung der ‚Handlungen‘ in der pragmatischen und existenzialistischen Philosophie finde ich befremdlich, da diese Handlungen doch immer durch Narrative kontextualisiert werden und nicht per se identitätsstiftend sind.
Nehmen wir als Beispiel Sisyphus. Er wuchtet also jeden Tag diesen Felsbrocken auf den Hügel. Ist es wirklich das, was seine Identität ausmacht? Oder ist es nicht vielmehr entscheidend, wie er sein Handeln betrachtet und bewertet? Macht es nicht einen riesigen Unterschied, ob er sein Tun als Fluch, als Strafe oder als seine Bestimmung betrachtet?
Albert Camus behauptet, Sisyphus sei ein glücklicher Mensch gewesen, da er sich jeden Tag dieser Aufgabe gewidmet hat, und dass es bedeutungslos ist, ob er sein Ziel erreicht, da es eben der Kampf, die Hingabe an eine Aufgabe sei, die das Leben zu einem glücklichen macht. Du siehst, die gleiche Handlung kann in sehr unterschiedliche Identitäten münden.
Sysiphus, ja der erinnert mich an bestimmte Handlungen der Zen-Praxis.
Wir schneiden zum Beispiel das Gemüse auf halbe Reiskorngröße.
Super slow-Food sozusagen und natürlich wissen wir, dass in kürzester Zeit alles aufgegessen sein wird
…Aber das ganze Leben wird ja enden. Was hat im Angesicht dieser Tatsache Wert?
Deine Bilder, alles KI ?
…einige ja, andere aus dem WP-Fundus
Excelente 💯
A wonderful sharing ❤️
Grettings regards 🌎🇪🇦
Happy saturday 🌞